Text: Frank Brunner ∙ Foto/Video: Ingmar Nolting Konzept: Sepideh Honarbacht und Anna Karch
Ambulanter und stationärer Sektor sind im deutschen Gesundheitssystem voneinander getrennt. Unterschiedliche Gesetze, unterschiedliche Zuständigkeiten, unterschiedliche Abrechnungssysteme erschweren es Menschen, sich zwischen niedergelassenen Fach- oder Hausärzten, Pflegeeinrichtungen und Rehazentren zu orientieren.
Gleichzeitig ist die medizinische Infrastruktur in manchen Regionen gefährdet. Teilweise weil Technik und Personal viel kosten, teilweise weil Ärzte fehlen. Oft wirken beide Phänomene gleichzeitig.
Eine Möglichkeit, Versorgungsdefizite auszugleichen: bessere Vernetzung der Akteure vor Ort, um regulatorische Grenzen zu durchbrechen.
Wie das gelingen kann? G+G-Autor Frank Brunner fand Antworten in Sachsen, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Für das G+G-Magazin war er zudem auf der Schwäbischen Alb.
10.35 Uhr erreicht Chefarzt Nils Walther das Foyer. Anderthalb Stunden zuvor hatte er sein Büro verlassen, war zu einem Rundgang durch die Klinik gestartet, um sich einen Überblick zu verschaffen. Der Anmeldetresen ist seine letzte Station. Alles scheint ruhig an diesem Donnerstagvormittag. Walther nickt Nicole Vater zu. Die medizinische Fachangestellte checkt am Computer hinter dem Tresen die an diesem Tag geplanten Operationen und Zimmerbelegungen. Walther will gerade nach einem Patienten schauen, als ein Signal in der Halle ertönt.
Notfallsanitäter, die mit ihrem Rettungswagen in diesem Augenblick die Klinik ansteuern, haben den Alarm über ein Tablet im Wagen ausgelöst. Nicole Vater schaut auf den Bildschirm und sagt: „In drei Minuten sind sie da.“ Sie liest die Meldung. „Eine 80-jährige Frau mit Exsikkose, nicht reanimiert, nicht beatmet, kein Herzkatheter.“ Vater entscheidet: „Wir legen sie in Schockraum zwei.“ Minuten später öffnet sich die automatische Tür und zwei Rettungssanitäter schieben die Patientin hinein. „Wir brauchen die Vitalwerte“, sagt Chefarzt Walther, „Herzfrequenz, Blutdruck, Sauerstoffsättigung.“ Nicole Vater lotst die Rettungssanitäter Richtung Schockraum. Dass die Versorgung der Patientin so schnell und reibungslos funktioniert, liegt auch daran, dass die Notaufnahme in Niesky nicht überlastet ist.
Nicole Vater arbeitet seit acht Jahren im Krankenhaus Emmaus Niesky. Bei ihr landen Patienten zuerst: Notfälle mit dem Rettungswagen, wie die ältere Dame eben. Aber auch Menschen, die sich einer geplanten Operation unterziehen, und Selbsteinweiser. Letztere vor allem, wenn die Arztpraxen der Stadt geschlossen haben.
An Wochenenden, Brücken- oder Feiertagen, wenn viele Bürger auch mit weniger akuten Beschwerden die Notaufnahme aufsuchen, entscheiden Vater und ihre Kolleginnen von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) am Gemeinsamen Tresen der Klinik, ob Patienten stationär aufgenommen oder in der KV-Praxis nur wenige Schritte neben der Notaufnahme ambulant behandelt werden. So wird die Rettungsstelle nicht von Patienten beansprucht, denen auch ohne aufwendige Diagnostik geholfen werden kann.
Niesky war die erste Klinik in Sachsen, die eine KV-Bereitschaftspraxis integrierte. Mittlerweile existiert das Modell im gesamten Bundesland.
Niesky, wo Chefarzt Walther und Fachkraft Vater an diesem Morgen alle Hände voll zu tun haben, befindet sich 20 Kilometer südlich von Görlitz, nahe der polnischen Grenze. Rund 9.100 Menschen leben hier. Seit Jahren werden es weniger. Gleichzeitig steigen der Altersdurchschnitt und damit der Versorgungsbedarf.
Das Krankenhaus Emmaus Niesky (KHE) war ein Regelversorger ohne starke Spezialisierung, bis 2019 mit 100 Betten und etwa 4.000 stationären Fällen im Jahr. Allerdings drohte der Klinik immer wieder die Schließung, weil der Betrieb nicht kostendeckend funktionierte. „Niesky hatte Probleme wie viele kleine Krankenhäuser“, erzählt Chefarzt Walther. „Nur mit Grund- und Regelversorgung können solche Kliniken normalerweise nicht überleben.“
2015 übernahm die Evangelisch-Lutherische Diakonissenanstalt Dresden die Trägerschaft. Um den Krankenhausstandort zu erhalten, verhandelten der neue Eigentümer zusammen mit Vertragsärzten, Landesregierung und AOK PLUS über ein neues Konzept. Aus dem Krankenhaus Niesky wurde das Lokale Gesundheitszentrum Niesky. Die Diakonissenanstalt und die AOK PLUS schlossen einen Vertrag zur integrierten Versorgung, die sektorenübergreifend und interdisziplinär erfolgt und gleichzeitig Kosten senkt. Der Weiterbetrieb war gesichert.
Zehn Jahre nach dem Eigentümerwechsel verlässt Nils Walther, 57, sein Büro und beginnt seinen Rundgang. Seit 2019 ist der Gefäßchirurg hier Chefarzt. Vier weitere Chirurgen waren ihm aus seiner vorigen Klinik nach Niesky gefolgt. Dazu kamen zwei Unfallchirurgen aus einem weiteren Krankenhaus. Ihre Idee: Spezialisierung.
Walther und sein Team fokussierten sich auf Gefäßchirurgie, besonders in der minimal-invasiven Variante. Während er Richtung Erdgeschoss eilt, sagt Walther: „Wir bemerkten außerdem, dass zu uns viele Patienten mit chronischen Wunden kamen.“ Walther und sein Team stellten einen Wundmanager ein und gründete ein regionales Wundzentrum, in dem Anästhesisten, Diabetologen, Kardiologen, Schmerztherapeuten, Chirurgen und Gesundheitsdienste zusammenarbeiten. „Mittlerweile besuchen uns Patienten aus einem Umkreis von 85 Kilometern.“ Walthers erster Zwischenstopp an diesem Morgen liegt außerhalb des Hauptgebäudes: in der weißen Villa.
Als Nils Walther an diesem Morgen die Villa erreicht, ist das Gebäude noch menschenleer. Erst in einer halben Stunde beginnt hier, in den Facharztzentren, die Sprechzeit der beiden Hausärzte. Jeden Mittwoch arbeitet auch Walther in der Villa, begutachtet als niedergelassener Chirurg Gefäße, führt Sonografien durch. Denn er ist nicht nur angestellter Klinikchef, sondern verfügt auch über eine Zulassung der Kassenärztlichen Vereinigung. Schwere Fälle überweist er von seiner Praxis in die Klinik. Zur Nachbetreuung nach Operationen sieht Walther die Patienten dann erneut in der Praxis. Ein Schritt Richtung Verzahnung von ambulanten und stationären Strukturen.
Uns war klar, dass ein Krankenhaus in einer ländlichen Region nicht ohne ambulantes Umfeld existieren kann. Deshalb haben wir die ambulante Versorgung für unsere Patienten in der Region aufgebaut.
Nils Walther
Chefarzt
Nach seiner Tour durch die weiße Villa erreicht er erneut die Notaufnahme. Die zuvor eingelieferte stark dehydrierte Dame wird gut versorgt – Zeit, nach dem zweiten Patienten zu sehen, der an diesem Vormittag in einem anderen Schockraum liegt.
Auf der Krankenliege ruht ein kräftiger Mann in Handwerkerkluft. Um seinen Hals befindet sich eine Zervikalstütze, um seinen Arm eine Blutdruckmanschette und sein Oberkörper ist über ein halbes Dutzend Kabel mit einem Computer verbunden. Auf dem Weg zur Arbeit wurde sein Fahrzeug von einem anderen Auto seitlich gerammt. Der Mann wirkt benommen, ist aber ansprechbar.
Als Nils Walther den Schockraum betritt, kontrollieren eine Intensivpflegerin und ihr Kollege gerade die Vitalzeichen. „Guten Tag, mein Name ist Walther, ich bin der Chefarzt“, stellt sich Walther vor. „Haben Sie Kopfschmerzen, Sehstörungen oder andere Beschwerden?“ „War kurz bewusstlos“, antwortet der Mann. „Nehmen Sie Medikamente?“ „Blutdrucksenker.“ „Blutverdünner?“ „Nein.“
Walther vermutet ein Schädel-Hirn-Trauma, untersucht aber auch den Körper des Patienten. „Der Gurt könnte ein Bauchtrauma verursacht haben und durch abruptes Bremsen können Aorta, Milz oder Bauchspeicheldrüse einreißen.“ Offenbar ist aber alles in Ordnung. Keine Blutergüsse, keine Prellmarken. „Wir machen sicherheitshalber trotzdem einen Ultraschall vom Bauchraum“, sagt Walther. „Außerdem werden wir ein CT von der Halswirbelsäule und vom Kopf anfertigen, außerdem ein EKG schreiben, um Herzverletzungen auszuschließen.“ Danach entscheidet das Ärzteteam, ob er entlassen werden kann oder weiter stationär behandelt werden muss.
Krankenhausentlassungen sind ein viel diskutiertes Thema in Niesky. „Unsere Patienten haben in der Regel die 80 überschritten, leben oft in einem der umliegenden Dörfer, meist allein, weil die Kinder weggezogen sind“, erzählt Walther. Wegen des DRG-Systems müsste er Patienten nach einer OP möglichst schnell entlassen. „Aber wie sollen hochbetagte Leute alleine zu Hause klarkommen?“, fragt er. Damit die Menschen nach einer stationären Behandlung nicht alleingelassen werden, kooperiert die Klinik mit einem Sozialdienst, einem Pflegedienst und hat – in Zusammenarbeit mit der AOK PLUS – ein Patienteninformationszentrum gegründet.
Dort zeigen Pflegefachkräfte Patienten oder deren Angehörigen in Kursen, wie man Verbände wechselt, Insulinspritzen setzt, unterrichten in Sturzprophylaxe oder demonstrieren Maßnahmen der Ersten Hilfe und helfen Anträge, etwa für Kuren, auszufüllen. Ziel ist es, eine erneute Klinikeinweisung zu vermeiden. Klinikchef Nils Walther sagt: „Für Patienten ist es wichtig, schnell und gut behandelt zu werden, nur kurze Wege bewältigen zu müssen und deshalb ist diese sektorenübergreifende Versorgung ein echter Gewinn.“
Kern des Gesundheitszentrums in der sächsischen Kleinstadt ist der Gemeinsame Tresen. Hier landen viele Hilfesuchende und werden von dort in die passende Versorgungsebene weitergeleitet.
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„Sektorenübergreifende“ oder „sektorenunabhängige“ Versorgung –Was ist der Unterschied?
Versorgung funktioniert sektorenübergreifend, wenn Fachkräfte aus Medizin und Pflege über die Grenzen von Kliniken, Arztpraxen und Pflegeheime hinweg kooperieren. Ziel: Barrieren überwinden, um eine integrierte und damit hochwertige Versorgung zu gewährleisten.
Versorgung funktioniert sektorenunabhängig, wenn Fachkräfte aus Medizin und Pflege die Patienten abseits traditioneller Gesundheitsstrukturen behandeln. Das heißt, Leistungserbringer garantieren einen durchgehenden Zugang zu notwendigen Gesundheitsdiensten. Ziel ist eine noch stärkere Orientierung an Patientenbedürfnissen.
Sektorenübergreifende Versorgung kann ein erster Schritt zur sektorenunabhängigen Versorgung sein. Letztere zeigt sich durch einen direkten Zugang von Patienten zu nötigen Therapien – ohne Umwege über Überweisungen oder andere bürokratischen Hemmnisse.
Seit drei Minuten fährt Kurt Strempel Fahrrad, ohne einen Zentimeter vorwärts zu kommen. Jahrzehntelang war er Gaststättenleiter, erinnert sich noch heute an die exakt 832 Hochzeiten, die er in seinem Haus organisiert hat. Jetzt ist er 86, hat unter anderem Durchblutungsstörungen und Osteoporose. Deshalb strampelt Strempel auf dem Ergometer im Fitnessraum. „Na, schon zu Hause angekommen?“, fragt Simone Boltz lachend, die neben ihm steht und aufpasst, dass er sich nicht überanstrengt. Simone Boltz ist Pflegefachkraft mit geriatrischer Spezialausbildung und Bereichsleiterin der geriatrischen Tagesklinik im Sana-Krankenhaus Templin.
Seit Januar 2024 existieren hier zwölf Plätze für ältere Patienten. Meist sind sie drei Tage pro Woche hier, morgens holt sie der Fahrdienst zu Hause ab, nachmittags geht es wieder zurück. Manche kommen nach Operationen direkt aus der Klinik, weil sie eine intensive Nachbetreuung benötigen, um in den eigenen vier Wänden klar zu kommen. Andere, beispielsweise Kurt Strempel, erhalten Überweisungen von ihren Hausärzten, wenn diese merken, dass ihre Patienten zusehends Schwierigkeiten haben, ihren Alltag zu bewältigen. „Wir arbeiten teilstationär, sind ein Bindeglied zwischen ambulanter und stationärer Versorgung,“, sagt Simone Boltz.
Endlich kann Kurt Strempel das Rad verlassen. Es folgen Schulterübungen, dann Trainingseinheiten zur Rumpfstabilsierung. Erst danach darf er im Ruheraum entspannen. „Ziemlich viel los heute“, brummt er. „Legen wir mal die Beine hoch“, sagt Simone Boltz und Kurt Strempel sinkt zufrieden in den Liegesessel.
Wie jeder Tag hatte auch dieser mit einem gemeinsamen Frühstück begonnen, anschließend folgten medizinische Untersuchungen, später einzeln oder in Gruppen Physio- und Ergotherapien. Ein Arzt hatte seine tägliche Visite durchgeführt. Jetzt ist Regenerationsphase bis zum Mittagessen. Die Tagesklinik füllt eine Lücke, die der Mangel an Pflegeheimplätzen und Tagespflegeplätzen hinterlassen hat. Ohne diese Betreuung würden viele Senioren an Selbstständigkeit einbüßen. Die Folge: längere Klinikaufenthalte.
Auch im brandenburgischen Templin, gut 80 Kilometer nördlich von Berlin, sorgt die Demografie für Fachkräftemangel in der Pflege und Schwierigkeiten, freiwerdende Arztsitze nachzubesetzen. Vor 20 Jahren lebten noch mehr als 17.000 Einwohner in der „Perle der Uckermark“, für 2030 rechnen Statistiker mit weniger als 14.000.
2016 startete ein Konsortium, darunter die Sana-Kliniken Berlin Brandenburg, die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg, AOK Nordost und Barmer, das Projekt „IGiB – StimMT“. Das kryptische Kürzel steht für: Innovative Gesundheitsversorgung in Brandenburg – Strukturmigration im Mittelbereich Templin.
Ziel: auf Basis von Versorgungsforschungsdaten eine SGB-übergreifende Versorgungsstruktur aufzubauen, die Pflege, Heilmittelversorgung und Sozialunterstützung einbezieht. „Ambulant vor stationär“ und „Wohnortnah vor wohnortfern“ lauteten die wichtigsten Prämissen – umgesetzt unter anderem in der geriatrischen Tagesklinik.
2020 endete das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) finanzierte Modellvorhaben. Einige Projekte mussten beerdigt werden, andere liefen unter dem Namen „Ambulant-Stationäres Zentrum“ (ASZ) Templin weiter. So existiert bis heute das Ärztenetz „Gesund in Templin“, in dem 25 Mediziner und Psychotherapeuten sektorenübergreifende Behandlungspfade, etwa zu Adipositas und Herzinsuffizienz, etabliert haben.
Ebenfalls wichtig für die Region: Neben einer besseren Versorgung älterer Menschen gelang es auch, die pädiatrische Betreuung zu sichern. Keineswegs selbstverständlich. Denn wegen Personalmangels im Ärztlichen Dienst musste die Kinderstation der Klinik geschlossen werden.
Dafür wurde auf dem Krankenhausareal eine alte Villa zur modernen Kinderambulanz umgebaut, in der heute zwei Kinderärztinnen praktizieren. Die Kassenärztliche Vereinigung deklarierte die Praxis aufgrund der Unterversorgung in Templin als „Sonderbedarf“. So dürfen auch Klinikmediziner als niedergelassene Ärzte arbeiten. Eine von ihnen ist Dr. med. Ruth Mähl.
Eigentlich hatte sich Ruth Mähl 2019 in den Ruhestand verabschiedet. 40 Jahre war sie Kinderärztin in Templin, davon mehr als zwei Jahrzehnte Chefärztin der Kinder- und Jugendmedizin im Templiner Krankenhaus. Doch nach ihrer Pensionierung bot sie weiter Sprechstunden an, unterstützte ihre polnisch-stämmige Kollegin Beata Kaczmarek-Dylas bei der Facharztanerkennung in Deutschland.
Ein Dienstagnachmittag in der Kinderambulanz: Ruth Mähl macht eine kurze Pause. „Heute hatten wir sehr, sehr viele Patienten“, erzählt sie. „Morgens halb acht, eine halbe Stunde vor Sprechstundenbeginn, hatte sich vor der Praxis schon eine lange Schlange gebildet.“ Es sei wichtig, allen Kindern eine gute Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, betont sie.
Nur wenige Meter weiter, im Sprechzimmer von Kathrin Zinnow, herrscht Hochbetrieb. Die Leiterin der Pädiatrie ist ebenfalls ursprünglich Klinikärztin. Mittlerweile arbeitet sie sektorenübergreifend. Neben der Praxis gibt es in der Klinik einen teilstationären Bereich für kleine Patienten: zwei Betten in der pädiatrischen Tagesklinik, die – analog zur geriatrischen Tagesklinik – eine wohnortnahe Diagnostik komplexerer Fälle ermöglicht. In der Praxis ruft Kathrin Zinnow den letzten Patienten an diesem Tag auf. Einen Vorschüler mit Husten, Schnupfen, Fieber – das Übliche in der kalten Jahreszeit.
„Seit 2024 ist die pädiatrische Praxis Teil der Regelversorgung“, erzählt Florian Schulz. „Es hat sich herausgestellt, dass Bedarf an einer zweiten Kinderarztpraxis in Templin besteht.“ Schulz ist Direktor des Sana-Krankenhauses und auf einen kurzen Sprung vorbeigekommen.
Kurz darauf verlässt er die Praxis und läuft zurück zum Klinikgebäude. Im Besprechungszimmer trifft er Dr. Annekathrin Möwius. Die niedergelassene Fachärztin für Allgemeinmedizin ist Vorstandsvorsitzende des Ärztenetzes „Gesund in Templin“, das sich im Rahmen des „StimMT“-Projektes gründete. Aktuell gehören 25 Ärzte zum Netzwerk. An diesem Tag erzählt Annekathrin Möwius von einem weiteren sektorenübergreifenden Projekt in Templin – dem Adipositas-Pfad.
Möwius bekommt von ihren Kollegen Adipositas-Patienten zugewiesen, bespricht mit den Betroffenen mögliche Ziele und entwickelt mit ihnen einen Therapieplan. „Das Konzept funktioniert so, dass ich als Ärztin alle Behandlungspfade wie Bewegungstherapie, Ernährungstherapie, Physiotherapie und Psychotherapie koordiniere und die Fortschritte kontrolliere“, erzählt die Medizinerin. Als Kooperationspartner fungiert unter anderem die AOK mit einem Selektivvertrag. Mit im Boot ist auch das Sana-Krankenhaus. Klinikdirektor Schulz sagt: „So werden bariatrische Operationen durch Experten des Adipositaszentrums im Sana-Klinikum Berlin-Lichtenberg in Templin wohnortnah durchgeführt.“
Niedergelassene Ärzte und Klinik kooperieren auch in einem Weiterbildungsnetzwerk, mit dem die Mediziner bundesweit nach Weiterbildungsassistenten suchen, die ihre fünfjährige Facharztausbildung in Templin absolvieren möchten. „Da zur Ausbildung sowohl stationäre als auch ambulante Stationen gehören, würden davon Klinik und Praxen profitieren“, sagt Möwius. „Es ist wichtig, dass wir alle Ausbildungsinhalte der Grundversorgung in der Region anbieten können, damit die Mediziner bleiben“, ergänzt Florian Schulz. „Es ist nicht ganz einfach, Kandidaten zu finden, aber ein erster Arzt konnte schon gewonnen werden.“
Eine letzte Frage: Was ist das Erfolgsgeheimnis in Templin? „Dass von Anfang an ambulant und stationär arbeitende Ärzte involviert waren“, sagt Allgemeinmedizinerin Annekathrin Möwius. „Dass es eine Partnerschaft auf Augenhöhe ist, in der niemand die Projekte dominieren möchte und keine Partikularinteressen verfolgt werden“, sagt Klinikdirektor Florian Schulz.
Im nördlichen Brandenburg therapieren ambulant und stationär arbeitende Ärzte ihre Patienten Hand in Hand.
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2024 veröffentlichte der AOK-Bundesverband das Positionspapier „Gesundheitsregionen: Sektorenunabhängige Versorgung gestalten“.
Diagnose
Starre und zentralistische Gesetze behindern neue, regionalspezifische Formen der sektorenunabhängigen Zusammenarbeit. Existierende Leuchtturmprojekte münden aufgrund auslaufender Projektfinanzierungen.
Therapie
Aufhebung beschränkender kollektiv- und selektivvertragliche Regelungen. Stattdessen dezentrale, flexible Lösungen vor Ort durch Zusammenführung von Versorgungsbereiche etablieren.
Therapeutika
Eine neue gesetzliche Grundlage für eine „Regionale sektorenunabhängige Versorgung“ (RegioSV), die es Klinikbetreibern, Ärzten, Krankenkassen und Kommunen ermöglicht, zusammenzuarbeiten.
Therapiebedingungen
Digitale Vernetzung zur Koordination zwischen allen Leistungserbringern und Patienten. Fokus auf Prävention und ambulante Versorgung, um schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. Patientenorientierung, um individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Nina Nehm klopft an die Tür, wartet zwei Sekunden, betritt dann das Krankenzimmer. Kurz muss sie blinzeln. Durch deckenhohe Fenster wirft die Sonne ihre Strahlen, taucht den Raum in ein helles Licht. Die ältere Dame und ihr Ehemann in den Betten , beide jenseits der 80, blicken erwartungsvoll auf die Besucherin. „Wie fühlen Sie sich heute?“, fragt Nina Nehm und setzt sich zwischen die beiden.
Nina Nehm ist Patientenlotsin im Gesundheitszentrum St. Vincenz im Norden von Essen. An diesem Nachmittag möchte sie mehr über die häusliche Situation des betagten Paares herausfinden. Der Mann hat in jungen Jahren in einer Zeche Kohle gehauen. Eine harte Arbeit unter Tage, die seine Lunge ruiniert hat. Seine Gattin leidet unter beginnender Demenz. Beide wurden in den vergangenen zwei Tage gründlich untersucht.
„Haben Sie Unterstützung?“, fragt Nehm. „Meine Frau hat Pflegegrad drei, einmal wöchentlich kommt jemand zum Duschen“, sagt der Mann. Nehm: „Und Sie?“ „Ich habe keinen Pflegegrad, komm‘ schon klar“, brummt der Mann. Die Patientenlotsin erklärt ihm, welche Unterstützung er bekommen kann, empfiehlt ihm einen Hausnotruf und bietet an, nach der Entlassung nach ihnen zu schauen, eventuell für beide eine Reha zu beantragen. Nach anfänglicher Ablehnung akzeptiert der alte Bergmann die angebotene Hilfe, wirkt erleichtert, sich nicht alleine um alles kümmern zu müssen.
Nina Nehm, gelernte Logopädin mit Klinikerfahrung in Geriatrie und Neurologie, arbeitet seit April 2024 hier. Damals startete das Projekt STATAMED – Strukturierte Ambulant-Stationäre Allgemeinmedizinische Versorgung. „Mich hat an diesem Konzept überzeugt, dass alte Strukturen aufgebrochen werden, ich sehr flexibel auf die Patienten eingehen und dabei mit einem interdisziplinären Team zusammenarbeiten kann“, erzählt Patientenlotsin Nehm. Dann muss sie weiter, ins Zimmer nebenan, zu den nächsten Patienten.
Bis 2020 existierten im Essener Norden drei Krankenhäuser, zuständig für die Grundversorgung von rund 100.000 Einwohnern in einer Gegend, die durch höhere Arbeitslosigkeit und mehr Menschen mit Migrationshintergrund geprägt ist als der Süden der Stadt.
Vor fünf Jahren schloss der Träger die Einrichtungen. Bürger protestierten, Kommunalpolitiker suchten nach Lösungen. Eine davon ist das Gesundheitszentrum St. Vincenz, entstanden auf dem Gelände des ehemaligen St. Vincenz Krankenhauses in Essen-Stoppenberg, in einer Kooperation zwischen dem Krankenhausträger KERN Katholische Einrichtungen Ruhrgebiet Nord, der Stadt Essen und dem Ärztenetz Essen Nord West. Außerdem beteiligt: die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein und die AOK Rheinland/Hamburg. Essen ist einer von bundesweit sechs Standorten, an denen das STATAMED-Konzept, gefördert vom GBA-Innovationsfonds, derzeit getestet wird.
Das Gesundheitszentrum St. Vincenz ist weder klassisches Krankenhaus noch MVZ, sondern bietet eine ganz eigene stationäre Krankenhausversorgung an. Menschen mit akuten Infekten oder chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Herzschwäche, die einen stationären Aufenthalt benötigen, der aber nicht in einer größeren Klinik erfolgen muss, werden von ihrem Hausarzt, bestimmten Fachärzten oder dem Rettungsdienst hierher eingewiesen.
Ziel: ein an die Behandlung angepasster Aufenthalt, meist zwischen zwei und vier Tagen, um möglichst schnell wieder in die gewohnte Umgebung zurückkehren zu können. Dort werden Patienten – falls nötig – durch eine mobile Krankenschwester nachbetreut. So sollen Notfalleinweisungen oder Wiedereinweisungen verhindert werden.
An einen Dienstagvormittag sitzt Dr. Aischa Nitardy in ihrem Büro. Gerade hat sie ihre Visite beendet. Mit dabei: Assistenzärzte, Pflegekräfte, Patientenlotsen und eine mobile Krankenschwester. „Das erleichtert die Kommunikation und jeder weiß, was er an diesem oder den nächsten Tagen zu tun hat“, sagt die Fachärztin für Innere Medizin und Kardiologie. 15 Erkrankte betreut ihr Team an diesem Tag. Darunter Menschen mit Harnwegsinfekt, Lungenentzündung, COPD, kardialer Dekompensation und zwei Influenzapatienten.
Dr. Nitardy arbeitete zuvor als Chefärztin in Berlin und ist vor knapp einem Jahr nach Essen gezogen. „Ich finde es spannend, eine neue Versorgungsform mit aufzubauen“, begründet sie ihren Wechsel. Hier seien stationärer und ambulanter Sektor enger verzahnt als in der Regelversorgung, funktioniere der Informationsaustausch besser als anderswo. Für Hausärzte, die ihre Patienten ins Gesundheitszentrum einweisen wollen, sei sie telefonisch erreichbar, um Behandlungspläne abzustimmen. „So vermeiden wir Doppeluntersuchungen, überlange Verweildauern in Kliniken und die Gesundheitsversorgung wird effizienter“, sagt Dr. Nitardy.
Dann verabschiedet sie sich. Dr. Nitardy will noch einige Arztpraxen besuchen und dort das STATAMED-Konzept vorstellen.
Während Dr. Nitardy ihr Büro verlässt und das Treppenhaus ansteuert, packt Katja Bernhardt eine Etage weiter unten ihre Koffer. Auch sie hat gleich einen Außentermin. Die Pflegefachkraft verstaut Laptop, Tablet, Ultraschallgerät, mobiles EKG, die 360-Grad-Kamera, ein dazugehöriges Stativ und Kabel – das obligatorische Equipment für die Hausbesuche der „Flying Nurse“, wie mobile Krankenschwestern im Gesundheitszentrum St. Vincenz heißen. „Bei uns werden die Lebensumstände der Menschen mitberücksichtigt“, erzählt Katja Bernhardt.
„Bis zu 28 Tage nach der Entlassung dürfen wir Patienten nachbetreuen, sie und ihre Angehörigen beraten, den Gesundheitszustand beobachten, Vitaldaten messen und den Haushalt auf mögliche Gefahrenquellen kontrollieren.“ Über ihre telemedizinische Ausrüstung könne sie jederzeit einen optischen und akustischen Kontakt zwischen den Patienten und Dr. Nitardy oder ihren Kollegen herstellen. Die Ärzte entscheiden dann über weitere Schritte. „So sehen wir, ob unsere medizinische Hilfe ankommt, gleichzeitig werden unsere ärztlichen Ressourcen und die der Hausärzte viel besser genutzt, weil Fahrtzeiten entfallen und Daten sofort digital verfügbar sind“, ergänzt der Geschäftsführer des Gesundheitszentrums St. Vincenz, Robert Hildebrandt, und fügt hinzu: „Dies ist nur möglich, weil die Flying Nurse mit ihrer telemedinzinischen Ausrüstung Diagnostik allein durchführen darf."
Katja Bernhard sagt: „Die meisten Patienten sind erstaunt und dankbar, dass wir nach ihnen schauen und dass sie in vertrauter Umgebung ihre Sorgen loswerden können.“ Die „Flying Nurse“ schnappt sich ihren gepackten Koffer, verlässt die Klinik und steigt in ihr Auto. Einige Kilometer weiter wartet bereits eine Patientin auf sie.
Am 31. März 2026 endet die Interventionsphase des STATAMED-Projektes, in der Patienten aufgenommen werden können. Anschließend erfolgt eine einjährige wissenschaftliche Auswertung, 2027 soll der Abschlussbericht vorliegen. Endet dann auch das Projekt? „Nein“, sagt Robert Hildebrandt. „Wir sind so überzeugt von diesem Konzept, dass wir es im Rahmen der klassischen Krankenhausversorgung fortführen werden.“ Deshalb habe man im Gesundheitszentrum St. Vincenz alle Mitarbeiter unbefristet eingestellt.
Im Zentrum von STATAMED steht der Informationsaustausch zwischen Klinikärzten, ihren niedergelassenen Kollegen und Patienten. Gewährleistet wird die Kommunikation durch Flying Nurse und Patientenlotsinnen.
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Was wir brauchen, ist ein funktionierender rechtlicher Hebel für dezentrale, flexible Lösungsansätze vor Ort, um der Bevölkerung weiterhin sichere und verlässliche Versorgungsangebote machen zu können. Zu diesem Zweck möchten wir wieder mehr regionale Handlungsspielräume eröffnen.
Das wäre eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die regionalen Akteure Verantwortung übernehmen und Verunsicherungen abgebaut werden können.
Dr. Carola Reimann
Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes