Text: Ralf Breitgoff∙ Illustration: Malte Knaack Konzept: Sepideh Honarbacht und Anna Karch (UX Design)
Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist Ausdruck gelebter Solidarität. Gesetzlich verbrieft ist das Solidarprinzip der GKV in Kapitel 1 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V.) Derzeit gibt es in Deutschland 95 gesetzliche Krankenkassen.
Alle Mitglieder einer Krankenkasse, also entweder sozialversicherungspflichtig Beschäftigte oder freiwillig gesetzlich Versicherte, zahlen den gleichen prozentualen Beitragssatz von ihrem Einkommen und keine feste – vom Einkommen unabhängige – Prämie wie in der privaten Krankenversicherung (PKV).
Die Solidargemeinschaft GKV macht bei der Versorgung wiederum keinen Unterschied, ob jemand viel oder wenig verdient. Egal, ob aufgrund seines Lohns oder Gehalts die absolute Summe des Beitrags niedriger ausfällt: Alle Versicherten haben den vollen Krankenversicherungsschutz.
In der PKV ist der Versicherungsschutz oft auch von der Höhe der Prämie abhängig.
Niemand muss sich Sorgen machen, mehr für seinen Versicherungsschutz zahlen zu müssen, nur weil er älter und damit anfälliger für Krankheiten ist. Für die Beiträge spielt im Übrigen auch keine Rolle, ob und wie schwer krank jemand aktuell ist oder schon einmal war, etwa ob eine versicherte Person krebskrank war.
In der PKV können sich (Vor-)Erkrankungen auf die Höhe der Prämie auswirken.
Kinder gehören nicht für jeden, aber für viele zu einer Familie dazu. Für seine Kinder muss ein Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse keine höheren oder zusätzliche Beiträge zahlen. Nicht sozialversicherungspflichtige Ehepartner sind übrigens ebenfalls beitragsfrei mitversichert.
In der PKV fallen für jeden Versicherten Prämien an.
Neun von zehn Menschen in Deutschland sind gesetzlich versichert. Wer als Arbeitnehmer weniger als die Versicherungspflichtgrenze verdient, muss sich bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichern. Wer mehr verdient, kann sich freiwillig gesetzlich versichern oder bei einem privaten Versicherungsunternehmen.
Die Beitragsbemessungsgrenze setzt fest, bis zu welcher Höhe das Einkommen bei der Beitragsberechnung berücksichtigt wird. Jeder und jede gesetzlich Versicherte darf sich die Krankenkasse aussuchen, in die er oder sie eintreten möchte – auch die gesetzlich Pflichtversicherten.
Die Krankenkassen in Deutschland stehen also untereinander im Wettbewerb um die beste Versorgung. Gleichzeitig darf keine Krankenkasse Versicherte ablehnen. Gesetzliche Krankenkasse müssen jeden Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und Einkommen aufnehmen – anders als die privaten Krankenversicherer.
Die Krankheitslasten sind in der Bevölkerung allerdings sehr ungleich verteilt – in Zahlen ausgedrückt:
Damit die Solidargemeinschaft dennoch funktioniert, braucht der Wettbewerb klare Regeln. Er funktioniert nur, wenn alle Krankenkassen gleiche Voraussetzungen haben, um eine qualitativ hochwertige und effiziente Versorgung sicherzustellen.
Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich – kurz „Morbi-RSA“ – ist der entscheidende Mechanismus, der das GKV-System im Zusammenspiel mit dem Gesundheitsfonds im Gleichgewicht hält oder halten soll.
Im Gesundheitsfonds wird seit 2009 das Geld gesammelt, mit dem die Versorgung der gesetzlich Versicherten finanziert werden soll. Es wird über die Mechanismen des Morbi-RSA an die Krankenkassen verteilt. Der Gesundheitsfonds speist sich aus zwei Quellen.
Die Beitragseinnahmen der Krankenkassen bestehen aus dem gesetzlich festgelegten „allgemeinen Beitragssatz“ von derzeit 14,6 Prozent und den Zusatzbeiträgen, die jede Krankenkasse individuell von ihren Mitgliedern erhebt.
Der gesetzlich festgelegte jährliche Bundeszuschuss beträgt derzeit 14,5 Milliarden Euro.
Sowohl der allgemeine Beitragssatz als auch die kassenindividuellen Zusatzbeiträge werden jeweils zur Hälfte von den Mitgliedern der Krankenkassen und den Arbeitgebern gezahlt.
Alle Beiträge werden zunächst direkt an den Gesundheitsfonds abgeführt und über den Morbi-RSA wieder auf alle Krankenkassen verteilt.
Morbi-RSA klingt kompakter als morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich, ist aber genauso erklärungsbedürftig. Dem Morbi-RSA liegt ein komplexes statistisches Verfahren zugrunde, das jährlich aktualisiert wird.
Es werden die durchschnittlichen Kosten eines oder einer gesetzlich Versicherten nach Krankheiten, Alter und Geschlecht sowie nach Regionen ermittelt. Zudem sichert das Verfahren den Ausgleich extrem teurer Krankheitsbilder, etwa aufgrund aufwändiger Therapien.
Die einfließenden Daten speisen sich aus ärztlichen Diagnosen, Arzneimittelverschreibungen und Gesundheitsausgaben aller gesetzlich Versicherten.
Aus dem Morbi-RSA erhalten die Krankenkassen Geld für alle ihre Versicherten – egal ob sie familienversichert oder beitragspflichtig sind. Andernfalls müssten Krankenkassen mit vielen kostenfrei mitversicherten Familienangehörigen höhere Beiträge von ihren Mitgliedern verlangen.
Das System wäre nicht im Gleichgewicht.
Ein Rechenbeispiel: Krankenkasse A und Krankenkasse B haben jeweils ein Mitglied. Das Mitglied der Krankenkasse A verdient 2.000 Euro im Monat, das Mitglied der Krankenkasse B 4.000. Eine bestimmte Gesundheitsleistung kostet 200 Euro. Um diese Gesundheitsleistung zu finanzieren, müsste Kasse A ohne Einkommensausgleich von ihrem Mitglied einen Beitragssatz in Höhe von zehn Prozent verlangen. Kasse B käme mit einem Beitragssatz von fünf Prozent aus, wäre günstiger und somit im (Preis-)Wettbewerb für Versicherte vermutlich attraktiver.
In der GKV soll es aber gerade nicht um den günstigsten Preis, sondern um die beste Versorgung gehen.
Das System wäre nicht im Gleichgewicht.
Wie schon beschrieben, verursachen kranke Menschen grundsätzlich mehr Kosten als gesunde. Der Teufel steckt oft im Detail. Es gibt leichte und schwere Erkrankungen oder chronische und akute. Manche Menschen sind multimorbid, haben also mehrere Krankheiten gleichzeitig. Die Behandlung eines einfachen Schnupfens kostet weniger als eine schwere Lungenentzündung. Und ein dauerhaft kranker Patient mit Bluthochdruck, Herzinsuffizienz und Diabetes führt zu höheren Ausgaben als ein gleichaltriger Patient mit einer gebrochenen Nase.
Der aktuelle Morbi-RSA fasst alle bekannten Krankheiten in Gruppen zusammen, die sich insbesondere nach betroffenem Organsystem, Schwere der Krankheit und Therapie unterscheiden. Dieses komplexe Ordnungssystem gleicht Unterschiede in der Krankheitslast aus.
Für Versicherte mit extrem hohen Behandlungskosten gibt es einen „Risikopool“. Andernfalls könnte eine Krankenkasse mit vielen gesunden Versicherten einen geringeren Beitragssatz erheben, weil sie weniger hohe Ausgaben hätte. Ein klarer Wettbewerbsvorteil!
Das System wäre nicht im Gleichgewicht.
Es liegt auf der Hand, dass jüngere Menschen tendenziell gesünder sind als ältere und damit auch geringere Krankheitsausgaben aufweisen. Zudem gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Die Berücksichtigung aller Krankheiten im Morbi-RSA verringert diese Unterschiede bereits sehr deutlich, aber nicht komplett. Deshalb gibt es zusätzlich einen Aufschlag nach Alter und Geschlecht. Ansonsten könnte eine Krankenkasse mit vielen jungen Versicherten einen niedrigeren Beitragssatz verlangen, weil ihre Ausgaben geringer sind.
Das System wäre nicht im Gleichgewicht.
Art und Umfang der Krankheitslast, der Versorgungsstrukturen und Angebote sowie die Ausgaben sind regional höchst unterschiedlich verteilt. Manch ein Landstrich ist stärker vom demografischen Wandel betroffen als andere.
Der Morbi-RSA glich bisher bereits 60 Prozent dieser regionalen Unterschiede aus. Mit der 2021 eingeführten „Regionalkomponente“ werden verbliebene regionale Ausgabenunterschiede in relevantem Umfang reduziert.
Jedes Jahr werden die Daten aktualisiert, und auch das komplexe System zur Gruppierung von Krankheiten wird jährlich überprüft. Daneben hat der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) in der Vergangenheit bereits zahlreiche umfangreiche Gutachten erstellt, die die Funktionsweise des Morbi-RSA unter die Lupe genommen haben.
Beschränkte sich etwa der Morbi-RSA zunächst noch auf 80 meist chronische und besonders schwerwiegende Krankheiten, werden auf Basis solcher Gutachten seit 2021 alle Krankheiten berücksichtigt, Regionalkomponente und Risikopool wurden eingeführt.
Eine Analyse des AOK-Bundesverbandes hatte 2017 gezeigt, dass die Einbeziehung aller Krankheiten den Morbi-RSA in allen Bereichen treffsicherer machen würde.
Ein im Mai 2024 veröffentlichtes Expertengutachten legt nahe, dass sich mit der Aufnahme weiterer versichertenbezogener Merkmale die Zielgenauigkeit des Morbi-RSA deutlich erhöhen ließe.
Dazu zählen nach Ansicht der Experten versichertenbezogene Informationen zu Arbeitslosigkeit, Altersarmut, Versichertenstatus, Zuzahlungsbefreiung sowie zum höchsten Bildungsabschluss.
So finden vulnerable Gruppen, die nicht nur aufgrund ihres Gesundheitszustands, sondern auch wegen ihres sozialen Status tendenziell kränker sind, noch keine ausreichende Berücksichtigung im Morbi-RSA.
Bereits ein 2022 vom AOK-Bundesverband beauftragtes Gutachten des Forschungsinstituts für Medizinmanagement (EsFoMed) und des Lehrstuhls für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen hatte „Gerechtigkeitslücken im Morbi-RSA“ aufgedeckt.
Es ist inzwischen wissenschaftlich mehrfach nachgewiesen, dass sozial schwächer gestellte Menschen öfter krank werden und häufig auch schwerer erkranken als Menschen mit höherem Einkommen oder höherem Bildungsstand. So kommt es, dass die Zuweisungen aus dem Morbi-RSA trotz Berücksichtigung aller Krankheiten, Alter und Geschlecht nicht ausreichen, um die Gesundheitsausgaben beispielsweise von Pflegebedürftigen, zuzahlungsbefreiten Versicherten, Erwerbsminderungsrentnern sowie Beziehern von Bürgergeld zu decken.
Die Beseitigung dieses Ungleichgewichts ist eine zentrale Aufgabe bei der Weiterentwicklung des Morbi-RSA.