Redaktion: Irja Most ∙ Illustration und Online-Umsetzung: Anna Karch
Die Pflege in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Gleich mehrere Belastungen muss die Pflegeversicherung stemmen, um den Menschen eine gute Versorgung im Alter zu gewährleisten, wenn Unterstützung nötig ist. Die geburtenstarken Jahrgänge – die sogenannten Babyboomer – gehen in Rente. Damit steigt anteilig die Zahl der pflegebedürftigen Menschen. Eine zunehmend höhere Lebenserwartung führt ebenso zu mehr Pflegebedarf. Dadurch steigt die Anzahl der Leistungsempfängerinnen und -empfänger und auch die Kosten wachsen. Mit ihrem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und dem demografischen Wandel, durch den weniger Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, sinkt die Höhe der eingezahlten Beiträge in der Pflegeversicherung. Das führt unterm Strich zu weniger Einnahmen.
Für die Versorgung der Babyboomer braucht es zudem mehr Pflegefachpersonen. Deren Zahl geht aufgrund der demografischen Entwicklung ebenfalls zurück.
Familie Kehr kennt die Herausforderungen, die die Pflege von Angehörigen und die Vorsorge für die eigene künftige Situation mit sich bringen. Die Entscheidungen der Politik und die gesetzlichen Rahmenbedingungen spiegeln sich in ihrem Lebensalltag wider.
Drei Generationen leben gemeinsam unter einem Dach, alle sind vom Thema Pflege betroffen.
Die Großeltern der Familie Kehr gehören aktuell zu den mehr als 5,6 Millionen Pflegebedürftigen. So viele wie noch nie in Deutschland. Seit Gründung der sozialen Pflegeversicherung 1995 ist die Zahl der Leistungsempfängerinnen und -empfänger der SPV drastisch angestiegen und hat sich verfünffacht, wie das nachfolgende Diagramm zeigt. Mit der Umwandlung von drei Pflegestufen in fünf Pflegegrade durch die Pflegestärkungsgesetze 2017 hat sich die Zahl der Leistungsberechtigten noch einmal erhöht. Ziel der Gesetzgebung war es seinerzeit, Pflegebedürftigkeit gerechter, umfassender und alltagsnäher zu bewerten.
Entwicklung Pflegebedürftige von 1995 bis 2024
Die Zahl der Leistungsempfängerinnen und -empfänger der sozialen Pflegeversicherung (SPV) ist seit 1995 drastisch angestiegen und hat sich verfünffacht.
Entwicklung Pflegebedürftige in der SPV bis 2060
Künftig wird sich die Situation der Pflegebedürftigen weiter verschärfen. Mit den Eltern Ester und Amir Kehr gehen die letzten der Babyboomer in Rente und können mit zunehmendem Alter zu Pflegefällen werden. In den kommenden 30 Jahren steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland damit auf einen Höhepunkt. Mit langfristigen finanziellen Folgen: Bei steigender Pflegeprävalenz in den kommenden Jahrzehnten könnte die Zahl der Leistungsempfangenden in der SPV im günstigsten Fall auf mehr als 6,8 Millionen steigen. Dauerhaft höhere Finanzbedarfe ergeben sich bereits mit dem Referenzszenario, das mehr als 7,6 Millionen Pflegebedürftige vorausberechnet. Im ungünstigsten Fall könnte die Zahl der Betroffenen sogar noch um zwei Millionen höher liegen mit 9,7 Millionen.
Starker Anstieg bei den über 90-Jährigen von 2025 bis 2060
Die Menschen erreichen im Laufe der kommenden Jahrzehnte zunehmend ein hochbetagtes Alter. Einen besonders starken Anstieg sieht die Pflegevorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) bei den über 90-Jährigen, gefolgt von der Altersgruppe der 80- bis 90-Jährigen. Auch Amir und Ester Kehr sind im Jahr 2055 bereits 91 und 87 Jahre alt.
Zunahme der Pflegebedürftigen in den Bundesländern
Regional steigt die Pflegebedürftigkeit in den Bundesländern sehr unterschiedlich an. Vor allem Süddeutschland ist nach Berechnungen von Destatis betroffen. Ostländer wie Sachsen-Anhalt müssen hingegen nur geringfügig mit zunehmenden Zahlen rechnen.
Die Karte zeigt für alle 16 Bundesländer, wie stark die Zahl der Pflegebedürftigen in Prozent im Vergleich zu 2021 im Jahr 2055 aller Voraussicht nach zunehmen wird bei konstanten Pflegequoten. Der Schnitt für Deutschland liegt laut Destatis bei 37 Prozent.
Um die immer mehr werdenden Pflegebedürftigen künftig versorgen zu können, braucht es eine wachsende Zahl an Pflegekräften. Doch obwohl sich die Zahl der Pflegefachpersonen in den vergangenen Jahren bis heute erhöht hat, reicht das nicht aus, um den Bedarf zu decken.
Die Zahl der Beschäftigten in der Pflege hat sich von 2001 bis 2023 fast verdoppelt.
2044 fehlen mehr als zwei Millionen Pflegekräfte
Bisher konnte die Politik dem Fachkräftemangel in den Pflegeberufen nicht viel entgegensetzen. Mit einer generalistischen Ausbildung, besserer Bezahlung sowie mehr Kompetenzen sollen Einsteigerinnen und Einsteiger wie die 21-jährige Emilia für den Pflegeberuf dauerhaft begeistert werden. Und anderseits sollen so die Aufgaben der pflegerischen Versorgung auf mehr Schultern verteilt werden.
Die Pflegekräftevorausberechnung von Destatis zeigt, dass bis 2049 in allen Bereichen mehr Kräfte erforderlich sein werden. 2044 werden es demnach mehr als zwei Millionen sein. Dabei überholt 2049 der Bedarf der stationären Langzeitpflege die Krankenhäuser.
Die Zahl an künftig benötigten Pflegekräften wurde aus den vorausberechneten Zahlen der Pflegebedürftigen und Krankenhausfälle abgeleitet.
Pflegende Angehörige – wie Ester Kehr, die sich um die Pflegegeld beziehende Oma Lisa kümmert - bleiben auch weiterhin in den kommenden Jahrzehnten stärkste Kraft in der Versorgung. Mehr als doppelt so viele Pflegebedürftige erhalten ihre Unterstützung durch Angehörige gegenüber einer stationären Langzeitpflege.
Versorgungsformen der Pflegebedürftigen
Mehr Pflegebedürftige werden der Vorausberechnung nach in der Annahme einer moderaten Entwicklung auch künftig ambulant versorgt als vollstationär. Dabei nehmen beide Zweige deutlich zu bis 2055. Die meisten Pflegebedürftigen werden demnach auch weiterhin von Angehörigen versorgt.
Haushaltsgrößen schrumpfen stark
Bei den pflegenden Angehörigen tut sich ein weiteres Problem auf: Denn ein Haushalt wie Familie Kehr, in dem drei Generationen unter einem Dach leben, gehört schon gegenwärtig zur Ausnahme. Künftig wächst die Zahl der Ein-Personen-Haushalte weiter an. Haushalte mit mehr als zwei Personen werden weiter zurückgehen. Damit wird es auch deutlich weniger Angehörige im Haushalt geben, die für die Pflege zur Verfügung stehen.
Während die Pflegebedürftigkeit zuhause je nach Pflegestufe von der Pflegeversicherung weitgehend abgedeckt wird, steigt der Eigenanteil bei einem Pflegeheimplatz stetig an. Für stationär versorgte, wie Opa August, ist die Pflege besonders teuer. Rangierte der Eigenanteil bereits 2024 bei mehr als 2.400 Euro, könnte dieser je nach Steigerung im Jahr 2029 schon zwischen etwa 3.000 und 4.700 Euro liegen. Das ergeben Berechnungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Die schwarz-rote Bundesregierung hat deshalb im Koalitionsvertrag vereinbart, die Eigenanteile zu begrenzen.
Die Idee der Pflegeversicherung vor 30 Jahren, allen einen Anspruch auf eine gesicherte Versorgung im Pflegefall zu bieten, geht nicht mehr auf. Denn trotz steigender Beitragssätze reichen die Mittel in Perspektive nicht aus. Aktuell sind rund 75 Millionen Menschen in der sozialen Pflegeversicherung (SPV) versichert und damit mehr als 90 Prozent der Bevölkerung.
Nicht nur der demografische Wandel erhöht den Bedarf, sondern auch der Anstieg der pflegebedürftigen Menschen, die Leistungen beziehen über dem eigentlich demografisch erwartbaren Anstieg. Da die Beitragssätze der Sozialversicherungen insgesamt bereits drohen auf 50 Prozent der Abgaben für sozialversicherungspflichtige Beschäftige sowie die Arbeitgeberseite zu steigen, stellt eine weitere Erhöhung der Beitragssätze keine Lösung dar. Die Pflegekassen dringen daher auf den Einsatz von Steuermitteln. Vater Amir schaut schon jetzt sorgenvoll auf seine monatliche Lohnabrechnung. Ebenso sein Arbeitgeber. Aktuell liegt für das laufende Jahr 2025 die Gesamtabgabenlast schon bei 41,9 Prozent.
Der Beitragssatz für die SPV ist 2025 weiter angehoben worden von 3,4 auf 3,6 Prozent. Wie schnell sich damit der Beitragssatz von 2024 eigentlich überholt hat und somit auch Vorausberechnungen, die noch von 3,4 Prozent ausgegangen sind, zeigt das Diagramm. Auf Basis von 3,6 Prozent dürften die unterschiedlichen Szenarien bis 2060 noch ungünstiger ausfallen.
Der SPV-Beitragssatz in den Szenarien bis 2060
Ausgaben schnellen künftig weiter in die Höhe
Die Ausgaben der SPV steigen der Vorausberechnung nach um mehr als ein Zehnfaches von 2010 bis 2060.
Die Politik konnte die Problematik der Pflege bislang nicht nachhaltig lösen. Die gescheiterte Ampel-Regierung konnte ihre angekündigte große Pflegereform nicht mehr in Angriff nehmen. Nun will sich die schwarz-rote Bundesregierung der Herausforderung stellen. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zukunftspakt Pflege“ hat sich Mitte 2025 konstituiert und auf das weitere Vorgehen für eine Reform der Pflegeversicherung verständigt. Bis Ende des Jahres soll die Arbeitsgruppe gemeinsame Eckpunkte vorlegen, die 2026 in ein Gesetzgebungsverfahren münden sollen.
Kernpunkte der Bund-Länder-AG (BLAG) "Zukunftspakt Pflege"
Der Arbeitsgruppe gehören neben Bundesgesundheitsministerin Nina Warken die zuständigen Ministerinnen und Minister für die Pflegeversicherung auf Landesebene an. Ebenso nehmen die kommunalen Spitzenverbände an den Sitzungen teil.
In zwei Themenkomplexen sollen Fachgruppen für Finanzierung und Versorgung verschiedene Punkte erörtern. Mit Blick auf eine „Nachhaltige Finanzierung und Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung“ geht es nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums unter anderem um Anreize für eine eigenverantwortliche Vorsorge, die Weiterentwicklung des Umlagesystems durch einen weiterentwickelten kapitalgedeckten Pflegevorsorgefonds, eine Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile, die Aufteilung der Finanzierungsanteile durch Beitragsmittel, Steuern und individuelle/private Beteiligung sowie mögliche Stellschrauben für die Begrenzung der Ausgaben- sowie die Verbesserung der Einnahmenseite.
Im Bereich „Nachhaltige Sicherstellung der Versorgung und Stärkung der ambulanten und häuslichen Pflege“ soll es um Leistungsumfang und Ausdifferenzierung der Leistungsarten sowie die mögliche Bündelung und Fokussierung von Leistungen gehen. Außerdem stehen Möglichkeiten zur Stärkung der pflegenden Angehörigen mittels eines leicht verständlichen, unbürokratischen, wohnortnahen Beratungs-, Unterstützungs- und Pflegeangebotes im Fokus. Maßnahmen zur Prävention und Rehabilitation sollen Pflegebedürftigkeit vermeiden oder zumindest verringern. Ebenso ist die Förderung von Innovation und Digitalisierung ein Thema.
Die ersten Zwischenergebnisse im Überblick
Mitte Oktober hat die BLAG wie geplant einen ersten Zwischenbericht vorgelegt. Hinsichtlich der Finanzierung empfiehlt die Bund-Länder-Arbeitsgruppe grundsätzlich am Teilleistungssystem der SPV festzuhalten. Konkrete Reformvorschläge soll es bis Ende 2025 zur Begrenzung der stetig steigenden Eigenanteile für Pflegeheimplätze geben.
Zur Effizienzsteigerung müssen die Potenziale in der Versorgung stärker gehoben werden und die Wirkung bisheriger Leistungen auf den Prüfstand. – Nina Warken, Bundesgesundheitsministerin
Die BLAG schlägt in ihrem ersten Zwischenbericht vor, versicherungsfremde Leistungen konsequent aus Steuermitteln zu finanzieren. Eine Weiterentwicklung des Pflegevorsorgefonds soll laut Bericht zudem helfen, die Beitragssätze stabil zu halten. Weiterhin empfiehlt die BLAG, die Pflegegrade beizubehalten, aber die Strukturen des Leistungsrechts möglichst zu vereinfachen. Um Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern, soll bei Pflegegrad 1 eine stärkere Präventionsorientierung verfolgt werden, so die Idee.
Die Stärkung der ambulanten Pflege ist ein zentraler Baustein. – Melanie Schlotzhauer, Sozialsenatorin Hamburg
Auf den Prüfstand soll auch das Begutachtungsinstrument zur Bemessung der Pflegebedürftigkeit. Zur Überwindung starrer Grenzen zwischen ambulant und stationär sollen sektorenunabhängige Leistungsbudgets bis Ende 2027 ergebnisoffen geprüft werden. Eine Neuaufstellung und Weiterentwicklung der Beratungsangebote sollen Pflegebedürftige unterstützen, insbesondere durch eine Bündelung der entsprechenden Leistungen.
Mir ist wichtig, die Leistungen der Pflegeversicherung noch einmal genau in den Blick zu nehmen. – Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW
Durchwachsenes Echo der Pflegekassen
Angesichts der angespannten Lage der SPV hatten sich Verbände und Kassen vom ersten Zwischenbericht versprochen, dass es besonders hinsichtlich der Sicherung der Finanzierung weitreichendere Ergebnisse gibt. Zwar gehe der Vorschlags-Mix der BLAG in die richtige Richtung, doch die Pläne „für eine große Strukturreform laufen Gefahr zu scheitern, wenn der Bund nicht den Finanzierungsrahmen absteckt und damit das Hauptproblem der Arbeitsgruppe löst“, bewertete die Vorständin des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann, den ersten Aufschlag.
Hintergrund: Herausforderungen für Finanzierung und Versorgung
Grundlage der Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist eine aktuelle Iges-Studie, die die Problematik in Versorgung und Finanzierung noch einmal herausstellt. So gelte es für den Bereich Finanzierung herauszufinden, welche Ursachen für die steigende Pflegeprävalenz (den Anteil pfleegebedürftiger Menschen an der Gesamtbevölkerung in einem bestimmten Zeitraum) verantwortlich seien. Weiterer Haupttreiber des künftigen Finanzierungsbedarfs ist demnach die Entwicklung der Löhne. Denn „steigen sie, steigen auch die Beitragseinnahmen, aber auch die Preise und damit die Ausgaben für Produkte und Dienstleistungen (durch § 43c SGB XI wirkt sich die Lohnentwicklung auch als Ausgabentreiber aus)". Daneben sind Leistungsdynamisierungen, das heißt (gegebenenfalls regelmäßige) Anpassungen der budgetierten Leistungsbeträge auf Basis der Preisentwicklung, ein relevanter Parameter.
Die Einnahmenbasis spielt zudem eine große Rolle für die Finanzierung. Denn in den kommenden Jahren sinkt die Zahl der erwerbstätigen SPV-Mitglieder und die Zahl der Rentnerinnen und Rentner steigt, wie das nachfolgende Diagramm zeigt. Während 2024 2,1 Erwerbstätige auf einen Rentenbeziehenden kam, ändert sich das Verhältnis 2060 voraussichtlich auf 1,6. Die „strukturelle Veränderung der Mitgliedergruppen wirkt sich negativ auf die Einnahmen der SPV aus. Rentner zahlen faktisch rund 50 Prozent des Beitrags, den Erwerbstätige zahlen“, heißt es in der Iges-Studie weiter. Geht es nach der Vorausberechnung der Bevölkerungsentwicklung von Destatis, könnte durch Zuwanderung die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten künftig steigen.
Zur Situation der Versorgung von Pflegebedürftigen stellt die Iges-Studie fest, dass Pflegebedürftige nicht überall einen guten Zugang zu fachpflegerischer Versorgung haben. Dabei fehlen demnach pflegerischen Angeboten Koordinierung, Anleitung und Begleitung, ebenso eine systematische Anbindung an patientenorientierte Versorgungspfade. Das belaste Arztpraxen, Notfallversorgung undKrankenhäuser. Ebenso mangele es an fachpflegerischer Unterstützung von pflegenden Angehörigen, insbesondere in Notfall- und Krisensituationen.
Bei der stationären Pflege würden Leitungs- und Pflegepersonal durch die Anforderungen an Pflegeeinrichtungen belastet. Entlastungen kämen nicht rechtzeitig in der Praxis an. Zuviel Bürokratie halte das Personal von ihren eigentlichen Pflegeaufgaben ab. Entlastungschancen durch die Digitalisierung wie Telepflege würden zu wenig genutzt. Darüber hinaus würden die Potenziale der Prävention, um die Pflegebedürftigkeit abzumildern, viel zu gering ausgeschöpft.
Vater Amir und Mutter Ester sind inzwischen selbst hochbetagt und pflegebedürftig. Tochter Emilia arbeitet nun schon viele Jahre als Pflegefachperson und erlebt den Wandel der Pflege aus nächster Nähe mit. Neue Ideen und Modelle stellen sich der Frage, wie soll die Pflege gesichert werden? Aber auch: Wie wollen wir gepflegt werden und wie leben wir im hohen Alter?
Caring Communities
Caring Communities könnten Pflege vor Ort bieten. Dabei handelt es sich um sozialräumlich organisierte Unterstützungsnetzwerke, in denen sich Menschen gemeinschaftlich um Pflege, Betreuung und Hilfe für ältere, kranke oder pflegebedürftige Personen kümmern. Dabei übernehmen nicht nur professionelle Dienste Verantwortung, sondern auch Angehörige, Nachbarn, ehrenamtlich Engagierte sowie lokale Organisationen und Institutionen. Ziel ist es, eine Kultur des Helfens und der gegenseitigen Verantwortung im direkten Lebensumfeld wie etwa in Stadtteilen oder Gemeinden zu fördern. Die AOK sieht Caring Communities als einen Baustein, um Pflege lokal verankert, bedarfsnah und nachhaltig zu gestalten.
Für ihre Finanzierung wird ein vernetzter, gemeinschaftlicher Ansatz vorgeschlagen, der mehrere Ebenen einbezieht. So sollen Kommunen und Pflegekassen Caring Communities in gemeinsamer Verantwortung gestalten und unterstützen. Pflegekassen sollen regionale Versorgungsstrategien aktiv mitentwickeln und mit den Kommunen kooperieren beispielsweise über sogenannte Strukturentwicklungsbudgets. Diese Budgets sollen genutzt werden, um innovative und lokal angepasste Unterstützungsangebote gezielt zu fördern, etwa durch Aufbauhilfe, Koordination oder die Stärkung ehrenamtlicher Strukturen.
Die Pflegekassen treten zudem als Partner der Kommunen auf und helfen bei der kommunalen Bedarfs- und Sorgestrukturplanung, etwa durch Bereitstellung von Daten, Beratungsleistungen oder Beteiligung an Planungsprozessen. Darüber hinaus wird die Altenhilfe, zu der auch Caring Communities zählen, als Pflichtaufgabe der kommunalen Daseinsvorsorge definiert. Dabei fordert die AOK eine Konnexität von Aufgaben- und Finanzverantwortung, also eine angemessene finanzielle Ausstattung der Kommunen zur Wahrnehmung dieser Aufgaben.
Um das Zusammenleben im Fall der Pflegebedürftigkeit angenehm und gut versorgt zu gestalten, gibt es eine Reihe an weiteren Modellen, zugeschnitten auf die individuellen Bedürfnisse.
Demenzdörfer
So haben sich sogenannte Demenzdörfer schon heute bewährt für Menschen mit einer entsprechenden Erkrankung. Demenzdörfer sind Wohnanlagen mit Infrastruktur wie Cafés, Geschäften, freiem Bewegungsraum in gut überschaubarer Form exklusiv für Demenzerkrankte. Diese Dörfer sollen Betroffenen ein gutes und den Bedürfnissen entsprechendes Zusammenleben ermöglichen. Ziel ist die Verbindung von Sicherheitsnetz und größtmöglicher Eigenständigkeit in einem angepassten Umfeld. Beispiele in Deutschland sind Tönebön in Hameln, Süßendell in Eschweiler und Ahorn‑Karree in Krefeld.
Vorbild für diese Projekte ist das Demenzdorf Hogeweyk nahe Amsterdam in den Niederlanden, das 2009 eröffnet wurde. Dabei handelt es sich um ein speziell gestaltetes Pflegeheim für Menschen mit schwerer Demenz, das wie eine kleine, sichere Ortschaft aufgebaut ist. Es besteht aus Wohnhäusern in verschiedenen Stilen, einem Supermarkt, Café, Theater, Friseur und Außenbereichen sowie offenen Wegen, auf denen sich Bewohnende frei bewegen können. Alles ist barrierefrei und abgesichert.
Ziel ist es, statt klassischer Heimstruktur einen normalen Alltag mit größtmöglicher Autonomie und Lebensqualität zu ermöglichen, auch bei schwerer Demenz. Das Pflegekonzept beinhaltet kleine Wohngruppen mit maximal sechs bis sieben Bewohnenden. Die Betreuung erfolgt durch Pflegekräfte, die auch Alltagsrollen übernehmen wie Nachbar- oder Freundschaft. Der Fokus liegt auf Werten wie Würde, Individualität und Sicherheit.
Die stationären Hausgemeinschaften wurden durch das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) als Alternative zum traditionellen Pflegeheim etabliert. Dabei handelt es sich um kleine Einheiten mit acht bis 14 Bewohnerinnen und Bewohnern, die den Alltag wie ein Familienhaushalt organisieren. Präsenzmitarbeitende begleiten den Alltag und ermöglichen selbstbestimmte, wohnliche Lebensräume, weg von institutionalisierten Strukturen.
Ihre Wohnqualität, Normalität und kleine Gruppenförderung machen sie zu wertvollen, ressourcenorientierten Pflegeangeboten, gerade auch für Menschen mit Demenz. Viele Umsetzungsideen finden sich inzwischen in ganz Deutschland, von modernen Bauprojekten über betreute Wohngruppen bis hin zu projektierten Demenzdörfern.
Das Modellprojekt „Pflege 2030“ ist ein ganzheitliches Leuchtturmprojekt der Korian Stiftung in Karlsfeld und wird gefördert vom Bayerischen Gesundheitsministerium. Ziel ist es, Personalausstattung, Gebäudestruktur und Technologien neu zu denken, um Arbeitsabläufe zu optimieren, Pflegende zu entlasten und die Lebensqualität der Bewohner zu erhöhen.
Der Realbetrieb fungiert dabei als Versuchsraum: Die Pflegeeinrichtung Haus Curanum in Karlsfeld dient als Praxis- und Evaluierungsraum für eine digitalisierte, bedarfsorientierte Pflege im Echtbetrieb. Es gibt einen Dreiklang aus Personal, Technik und Struktur: Ziel ist ein neu gestalteter Personalmix – insbesondere mehr Pflegeassistenzkräfte – in Verbindung mit technischer Innovation wie Künstlicher Intelligenz, Servicerobotern, Sensoren und datengestützter Prozesssteuerung. Im Projekt werden zahlreiche digitale Tools erprobt, etwa Serviceroboter, intelligente Betten, Datenbrillen, Sturzsensoren, VR‑Brillen, CareTables und Apps wie Luci zur Kommunikation im Sinne einer echten Integration in den Pflegealltag.
Unterstützt wird das Projekt durch Partner wie die Universität Bremen und das Fraunhofer Institut für Integrierte Schaltungen. Die Projektphasen reichen von Analyse und Konzeption über die Implementierung bis zur Evaluation, inklusive der Einrichtung eines Zukunftslabors für fast marktreife Technologien. Bis voraussichtlich 2026 sollen Erkenntnisse umfassend ausgewertet und in modularen Handreichungen zusammengefasst werden, die anderen Pflegeeinrichtungen als Blaupause dienen können.
Um die immer knapper werdenden Ressourcen in der Pflege besser aufzustellen, können nicht nur ganz neue Modelle, sondern bereits einzelne Stellschrauben die Strukturen verbessern. Die Hoffnungen liegen dabei besonders auf neuen Technologien durch die Digitalisierung. So übernehmen Roboter Aufgaben von Pflegekräften wie Betreuung oder schweres Heben von Pflegebedürftigen. Digitale Tools können Monitoring-Aufgaben erledigen oder die Gabe von Medikamenten überwachen und ausführen. Der Einsatz von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz kann Kosten sparen und Anforderungen unter Umständen sicherer erledigen.
Ebenso schaffen neue Berufsbilder mehr Spielraum für Pflegekräfte durch eine effizientere Verteilung von Kompetenzen und Aufgaben. So empfiehlt der zuständige Sachverständigenrat (SVR) die Einführung des Berufsbilds der Community Health Nurse (CHN) als zentralen Bestandteil einer zukunftsfähigen, sektorenübergreifenden Pflege. Ziel ist es, durch erweiterte Verantwortlichkeiten, eine akademische Qualifikation und die Einbindung in multiprofessionelle Teams bestehende Versorgungslücken in der Primärversorgung zu schließen, die Prävention zu stärken und die pflegerische Versorgung zu entlasten.
Ein Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege, ursprünglich unter der Ampel-Regierung als Pflegekompetenzgesetz geplant, wird derzeit im Bundestag beraten und soll im Januar 2026 – nach Zustimmung des Bundesrats im Dezember – in Kraft treten.
Es wird höchste Zeit, die Finanzen der SPV nachhaltig zu stabilisieren, denn die Pflegeversicherung ist chronisch unterfinanziert.
Carola Reimann, Vorständin des AOK-Bundesverbandes